Mit dem Rad durch die Stadt – Erfahrungsaustausch zwischen Deutschland und Russland
Am 17. März 2021 lud das drb zur digitalen Fahrrad-(Diskussions-)Runde ein. Im ersten Teil der ZOOM-Veranstaltung – einem interaktiven Workshop – bekamen die Teilnehmenden aus Russland und Deutschland eine kurze Einführung in die negativen Auswirkungen des motorisierten Verkehrs auf das Klima, die Umwelt und den Menschen sowie in die Bedeutung des Fahrrads als nachhaltiges Verkehrsmittel. Anschließend tauschten sich die Teilnehmenden über den Radverkehr in ihren Städten aus und verglichen die Situation in den beiden Ländern.
Der Workshop förderte damit den Dialog zwischen jungen Menschen aus Russland und Deutschland und schuf die Grundlagen für die Diskussionsrunde, die im zweiten Teil der Veranstaltung folgte.
Dazu hatte das drb vier erstklassige Expertinnen und Experten aus Russland und Deutschland geladen. Sie setzen sich in zivilgesellschaftlichen Organisationen in ihren Ländern für nachhaltige Mobilität und die Stärkung des Radverkehrs ein. Moderiert wurde die Diskussionsrunde im ersten Teil von Tatiana Yuminova und Judith Heckenthaler aus dem Team des drb. Im zweiten Teil konnten die Teilnehmenden ihre eigenen Fragen stellen. Diskutiert wurde über den heutigen Stand der Radinfrastruktur, bereits erzielte Erfolge und aktuelle Entwicklungen, sowie über Maßnahmen, die zur weiteren Förderung des Radverkehrs zukünftig in beiden Ländern nötig sind.
Die fahrradfreundliche Stadt der Zukunft
Aus Berlin zu Gast war Stella Mederake. Sie arbeitet bei dem bundesweit aktiven Jugendverband “BUNDjugend”, der sich für Umweltschutz und globale Gerechtigkeit stark macht. Dort leitet sie das Projekt “STADTräume – Reclaim the Streets!”. Anknüpfend an ihr Projekt, das sich für eine solidarische Mobilitätswende und lebenswerte Städte für alle einsetzt, erläuterte sie, was eine fahrradfreundliche Stadt auszeichnet, so wie sie zukünftig hoffentlich in Deutschland und Russland zur Realität wird.
Eine fahrradfreundliche Stadt bzw. eine solche, in der Rad sowie öffentliche Verkehrsmittel und Fußverkehr Vorrang vor dem Auto haben, ist eine Stadt für Menschen, in der wir gerne leben, uns bequem fortbewegen können und genügend Platz haben, um uns zu treffen. Die Stadtgestaltung orientiert sich an den unterschiedlichen Bedürfnissen aller ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Aktuell erleben wir eher eine Stadt für Autos, betonte Mederake. In der fahrradfreundlichen Stadt der Zukunft gibt es breite Radwege und sichere Abstellanlagen, heute noch von Autos blockierte Flächen stehen Radfahrenden zur Verfügung und für Autos herrscht das Tempolimit 30.
Fahrradstadt Berlin?
Inwieweit Berlin bereits auf dem Weg ist, eine solche Stadt zu werden, schilderte der ebenfalls aus der Bundeshauptstadt zugeschaltete Experte Michael Schulte. Er engagiert sich seit Langem ehrenamtlich bei der Organisation “Changing Cities”. Diese hatte 2016 den Berliner Volksentscheid Fahrrad gestartet. Jener setzte sich für die Mobilitätswende ein und forderte die Verabschiedung eines Gesetzes zur Förderung des Radverkehrs in Berlin. Innerhalb von nur drei Wochen wurden mehr als 100.000 Unterschriften von Berlinerinnen und Berlinern gesammelt, die die Initiative unterstützten. In Folge beschloss das Berliner Abgeordnetenhaus 2018 das Berliner Mobilitätsgesetz. Dadurch haben das Fahrrad und die öffentlichen Verkehrsmittel zukünftig bei der Verkehrsplanung Berlins Vorrang, anstatt dem Auto stets Priorität zu geben, wie es bisher der Fall war. Zudem schreibt das Gesetz u.a. Maßnahmen zum Ausbau des Radwegenetzes vor. Anknüpfend an die Erfolge des Radentscheids in Berlin haben sich auch in anderen Städten in ganz Deutschland ähnliche Initiativen entwickelt, so Schulte.
Zwar besteht das Mobilitätsgesetz auf dem Papier und aus russischer Sicht könnte die Berliner Radinfrastruktur als “paradiesisch” wahrgenommen werden, jedoch gibt es in Realität in Berlin noch viel zu tun, betonte Schulte. Das Bewertungskriterium für den Stand der Radinfrastruktur ist für ihn stets die Frage: Würde ich mit meinem 10-jährigen Kind auf diesem Radweg fahren? In Berlin sei die Frage vielerorts mit einem klaren Nein zu beantworten. Die Radinfrastruktur muss ausgebaut, verbessert und für Jung und Alt sicherer gemacht werden, erklärte der Experte. Sobald ein modernes Radwegenetz und Abstellanlagen vorliegen, steigen die Menschen automatisch auf das Rad um, so ist sich Michael Schulte sicher, denn das Rad ist in der Stadt ein wesentlich schnelleres und angenehmeres Verkehrsmittel als das Auto.
Nachholbedarf in St. Petersburg?
Einblicke in den Radverkehr in St. Petersburg gab Pavel Chusu, der die Fahrradgesellschaft der Stadt leitet. Lange sei das Fahrrad als Verkehrsmittel nicht wirklich ernst genommen, sondern Radfahren eher als Freizeitbeschäftigung verstanden worden. Dies verändere sich nun aber langsam und auch die Stadtverwaltung habe die großen Potentiale des Fahrrads erkannt. Es sei jedoch noch ein langer Weg, an dessen Ende das Ziel steht, Petersburg als Hauptstadt des Fahrradverkehrs zu etablieren.
Artem Alekseev, der zweite Referent aus St. Petersburg in der Runde und geschäftsführender Direktor des Zentrums für Umweltrecht “Bellona”, ergänzte, dass ein Umstieg vom Auto zum Fahrrad in der Stadt an der Newa dringend nötig ist, da die Luft sehr verschmutzt ist. Um staatliche Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs in Russland anzustoßen, brauche es zivilgesellschaftliche Initiativen. Jene in Deutschland und anderen europäischen Ländern seien das Vorbild. Um ein noch stärkeres Bewusstsein für die klimaschädlichen Auswirkungen des Autoverkehrs zu schaffen, führe “Bellona” zahlreiche Klimabildungsaktionen insbesondere für die jüngeren Generationen durch, unterstrich Alekseev.
Mit dem Rad durch die Coronapandemie
Diskutiert wurde auch die Frage, wie sich die COVID19-Pandemie auf den Radverkehr auswirkt. Aufgrund der hohen Ansteckungsgefahr meiden Personen in beiden Ländern die öffentlichen Verkehrsmittel. Die Podiumsgäste berichteten von zwei dadurch ausgelösten, in Kontrast zueinander stehenden Entwicklungen in Russland und Deutschland: Auf der einen Seite ein Trend zum Umstieg von Bus oder Bahn auf das Fahrrad. Auf der anderen Seite aber auch eine negative Tendenz zu mehr Autoverkehr. Als Reaktion auf erstere Entwicklung wurden in Berlin sogenannte Pop-up-Radwege geschaffen – das heißt zusätzlich quasi über Nacht errichtete Radstreifen. Dazu wurden in manchen Bezirken Teile der Straßenbahn mit Baustellenmarkierungen vom restlichen Verkehr abgetrennt und Radfahrenden zur Verfügung gestellt. Als Antwort auf zweiten Trend startete die Petersburger Fahrradgesellschaft Aktionen, um die aufs Auto umgestiegenen Bürgerinnen und Bürger hin zum Fahrrad zu bewegen, so Chusu.
Tritt in die Pedale für eine positive Zukunft
Alle Referierenden aus Deutschland und Russland blickten positiv in die Zukunft. Werden wir uns in fünf Jahren in diesem Kreis wieder treffen, werden wir von Erfolgen im Ausbau der Radinfrastruktur und in der fahrrad- und menschenfreundlichen Gestaltung der Städte berichten können, so waren sie sich einig. Sie luden das Publikum dazu ein, sich für die Stärkung des Radverkehrs einzusetzen. Gemeinsam lasse sich vieles bewegen.
Alles in allem brachte die Veranstaltung Perspektiven aus Russland und Deutschland zusammen. Sie zeigte Möglichkeiten auf, voneinander zu lernen und zusammenzuarbeiten. Wir bedanken uns bei den Referierenden sowie bei den Teilnehmenden für die gemeinsame Fahrradrunde und wünschen weiterhin gute Fahrt.
Kurze Einblicke in die Diskussionsrunde erhalten Sie hier:
Stella Mederake – Die fahrradfreundliche Stadt
Michael Schulte – Die Fahrradinfrastruktur in Berlin
Artem Alekseev und Pavel Chusu – Ausblick: Der Fahrradverkehr in St. Petersburg in fünf Jahren (auf Russisch)